09. September 2011

Musik.

Sie war's: Taren | am: 09.09.2011 | 07:25 | Stempel: erlebt, fühlen | Keine Gedanken »

Nach der Arbeit spätnachmittags fahre ich direkt weiter, ohne erst zuhause anzuhalten. Die Wege treffen sich dort, wo ich normalerweise aussteige, doch dieses Mal lasse ich die Haltestelle an mir vorbeiziehen. Von der aktuellen Arbeitsstelle direkt zur alten, Umsteigen am Hauptbahnhof und dann mit der Straßenbahn zur Klinik. Es ist schon ein bisschen seltsam, dort vor der Tür der Tagesklinik zu warten, bis mir mein alter Chef die Tür öffnet. Alles riecht genauso wie im letzten Jahr, nicht viel hat sich geändert.
Wir fahren direkt mit dem Aufzug nach oben in den Therapieraum, dieses Zimmer, was ich so sehr mag, weil es im Gegensatz zu den Räumen in der neurologischen Klinik alle Instrumente auf einem Ort vereint, auffordernd und einladend. Wir haben uns getroffen, um Musik zu machen, was mir in diesem Jahr so sehr gefehlt hat. Meine Patienten sind musikalisch viel schwächer als die in der Psychiatrie, und so verlangen meine Finger nach sechs Wochen basalstem Spiel nach vollem Einsatz, Rhythmik, die sich verschachtelt und vielfältig ist, und nach guter Musik. So zumindest hatte ich mir das Musik machen mit dem Cheffe vorgestellt.
Daß er mich dann jedoch wie selbstverständlich zum Klavier schiebt und selbst mit leicht gehässigem Grinsen am Schlagzeug Platz nimmt, war so von mir nicht geplant. Hilflos gucke ich zu ihm hinüber, der mich hemmungslos auslacht, und kämpfe gegen meine Angst, den Perfektionismus, der mir Improvisationen so schwer macht, und gegen die Scham über mein unzureichendes Spiel an. Nach mehreren Anläufen schließlich beiße ich mich durch, versuche, den übermächtigen Kopf und alle Hemmungen zu ignorieren und zu spielen, wie ich es tue, wenn ich allein bin, das Wissen ignorierend, daß dort am Schlagzeug mich der Mensch begleitet, dessen nicht nur musikalisches Urteil so wichtig für mich ist. Und es funktioniert. Nicht gut, nein, nicht kreativ, ohne Spannungsbögen und viel Prozessualität, aber immerhin schaffe ich es, gut fünf Minuten mit ihm zusammen zu füllen. Zwischenzeitlich verliert sich kurz das Denken und ich experimentiere für einige Augenblicke, bis mein Nicht-Können mich wieder selbst bremst.
Ich bekomme Lob, die Vergewisserung, daß ich auf dem richtigen Weg bin, und fühle selbst eine wirre Mischung aus Scham, Frustration und- Stolz. Mittlerweile kann ich mich überwinden, es immerhin versuchen, während ich vor einem Jahr lieber tot umgefallen wäre, als mich darauf einzulassen.
Wir improvisieren erneut, jetzt beide am Klavier, was einfacher ist, weil ich nicht allein den Klang produziere, sondern wir uns beide gegenseitig stützen und halten, und werde dabei mutiger, stärker, lauter. Ich lerne neue Methoden, Hilfsmittel, um Groove und Rhythmus zu erzeugen und Improvisationen zu grundieren, und mein Chef lobt und fordert mich zugleich. Es beginnt, neben dem maximalen Streß für mich auch Spaß zu machen, und anschließend, als ich endlich an die Cajon darf und jetzt den Cheffe percussiv begleite, funktioniert auch das Wegdrücken aller Gedanken und Spielen, einfach nur spielen.
On the way – it’s a long way still, but I’ve begun to walk.

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