12. Februar 2014

Seriously?!

Sie war's: Taren | am: 12.02.2014 | 16:07 | Stempel: erlebt | 3 Gedanken »

Manchmal verwöhnt uns die Welt, ohne daß wir es richtig mitbekommen. Mit vergehender Zeit werden manche Themen immer weniger aktuell, sie bleiben zwar schwierig, aber ohne diese tagtägliche Brisanz. Der Umgang mit meinen Narben wird vermutlich nie ganz leicht für mich sein, aber grundsätzlich habe ich mittlerweile einen Mittelweg gefunden, mit dem ich meistens leben kann – zumindest im Winter, im Alltag, bei Freunden. Unterschiedliche Umgebungen erfordern unterschiedliche Dresscodes, die sich eigentlich inzwischen eingespielt haben.
Langärmlig mit selten einmal bis zum Ellenbogen hochgeschobenen Ärmeln in der Uni. Hochgeschobene Ärmel auf der Arbeit im Café, schon aus Hygiene- und Wohlfühlgründen. Ganz langärmelig in Vorstellungsgesprächen oder Sprechstunden in der Universität, und im Praktikum. Der Temperatur angepaßte Zwischenebenen überall sonst – Freunde kennen mich in allen Stufen zwischen dickem Pullover und kurzem Top.

Natürlich bleiben die Blicke. An manchen Tagen spüre und bemerke ich sie mehr, an anderen gar nicht. Zuweilen werde ich offen angegafft, manchmal nur verstohlen gemustert, ab und zu angesprochen, was ich da getan hätte, was das sei, wie es mir jetzt gehe. Im Gegensatz zu früher, als die Narben noch röter und frischer waren, gibt es kaum noch heftige verbale Ablehnung, Anfeindung oder generell Kommentierung. Die Welt staunt und schaut, aber tut dies meistens stumm.

Vielleicht ist es damit verständlich, weswegen mich der Gast gestern Abend im Café so besonders irritierte. Mich sprachlos zu machen ist nun wirklich nicht einfach, dennoch fehlten mir gestern die Worte. Eigentlich war zunächst alles wie immer – ich habe die beiden Männer an dem 5er-Tisch freundlich und höflich bedient, und die Kommunikation war normal. Auch als sie mich zum Bezahlen an den Tisch winkten und ich kassierte, war nichts seltsames zu bemerken. Ich gab das Wechselgeld heraus, und wollte mich eigentlich bereits verabschieden und ihnen einen schönen Abend wünschen, als der ältere Mann der beiden noch einmal das Wort ergriff, er müsse das jetzt einfach sagen.
Dann sprach er von extremem Exhebitionismus, von unnatürlichem zur Schau stellen, von ungebührlicher Kleidung und davon, wie es ihm jedes Mal den Magen umdrehe, wenn er gezwungen sei, das zu sehen. Wie ich es wagen könnte, meine Umwelt mit so etwas zu belasten. Wie absolut unpassend mein Exhebitionismus sei, wie rücksichtslos, daß ich meine Narben anderen Menschen so aufdränge. Es fielen die Worte „widerlich“ und „belastend“, und daß es keineswegs zur persönlichen Freiheit gehöre, Narben derart zu präsentieren.
Ich war sprachlos, wirklich. Meine Schlagfertigkeit ließ mich in diesem Moment vollkommen im Stich, so daß ich wie ein abgekanzeltes kleines Mädchen vor diesem Tisch stand und nur mit einem lahmen „Das ist Ihre Meinung, ich sehe das anders“ reagierte.

Es macht mich nach wie vor fassungslos, auch heute noch. Die Dreistigkeit, derart unpassend einen anderen Menschen persönlich anzugreifen, diese Überheblichkeit, über Aussehen, Kleidung und Erscheinen eines anderen nicht nur zu urteilen, sondern sie zu verurteilen und abzuwerten in der eigenen Selbstgerechtigkeit – das übertrifft beinah alles, was ich jemals wegen meiner Narben erlebt habe.

Wie kann ich es nur wagen, anders auszusehen, und mir dann auch noch die Freiheit nehmen, damit einfach so zu leben?!

Das ist ja echt heftig … Kann ich gut verstehen, dass dir das die Sprache verschlagen hat.
Wenn du mich fragst, dann hat sich dieser Mensch da nur selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. Wie groß können die Scheuklappen sein, wie egozentrisch kann man sein?

Wir haben da ja auch ab und mal drüber geredet – ich finde, du machst dir wirklich genug Gedanken, da kann absolut nicht die Rede sein von „ungebührlicher Kleidung“.

Mehr fällt mir dazu nicht ein, du hast sonst quasi schon alles gesagt …
Ich finde den grundlegenden Ansatz aber gut es als Erinnerung daran zu sehen, dass die Welt nicht immer nur pöse und phies ist, sondern uns – wie du so schön und treffend formulierst – manchmal verwöhnt, ohne dass wir es merken.

Ich hoffe, ansonsten geht es dir gut und wir sprechen uns bald mal wieder. :-)

Liebste Grüße
Wilson

Vielen Dank, liebster Wilson!
Ansonsten ist alles gut, ja. Allerdings fehlst Du mich schon auch sehr. Ob wir vielleicht nächste Woche Do vor meinem Praktikum die Zeit finden, einander mal wieder zu sehen?
Übrigens hat die Geschichte von oben noch einen höchst witzigen Aspekt, der einen noch mehr über diesen Menschen staunen läßt. Ein Arbeitskollege von mir kennt ihn, er ist wohl häufiger da (und vielleicht hatte ich bislang einfach nur Glück, ihm noch nicht über den Weg zu laufen) – und er ist von Beruf psychologischer Psychotherapeut. Das macht die Begegnung irgendwie noch abstruser – natürlich, er sieht sowas ja schon den ganzen Tag auf der Arbeit. Wirklich unverschämt von mir, ihn in seiner Freizeit mit meiner Anwesenheit zu belästigen..

Das klingt nach einer wunderbaren Idee, die wir definitiv in Angriff nehmen sollten, finde ich. :-) Ich lauere jetzt auch schon öfter abends im ICQ, aber bislang hatte ich noch kein Glück. ;-)

Na, dann ist das erst recht ein Armutszeugnis für den Typ und man kann eigentlich nur hoffen, dass er zumindest in seinem beruflichen Alltag ein bisschen sensibler ist.

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