20. Mai 2013

Kurs Nordnordost.

Sie war's: Taren | am: 20.05.2013 | 12:41 | Stempel: fühlen, maritim | Keine Gedanken »

Mit hartem Griff zerrt der Wind an meinen Haaren. Ich wende ihm mein Gesicht zu, die Augen geschlossen, und lausche seinem Singen und Pfeifen und Flüstern. Von weit entfernt ist er gekommen, von der Küste, vom Meer, hat sich mit Wolken gebalgt und Regen gebracht, aber auch die Sonnenwärme sanft von der Haut gestrichen.
„Erzähle mir vom Wasser“, bitte ich ihn, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Ein wenig ziert er sich, pustet mir in die Ärmel und in meinen Ausschnitt, bis ich eine Gänsehaut bekomme, dann lenkt er ein.
„Das Schiff, was du liebst, segelt vor den dänischen Inseln. Sie haben gut Wind, ein paar Seekranke, aber die Segel stehen stolz und gebläht am Wind. Nicht weit davon kämpft eine kleine Yacht mit der Dünung, aber auch auf ihr sind gute Segler.“
„Wie ist es in der Stadt, die ich liebe?“
„Kühl, neblig, bedeckt. Die Menschen verstecken sich lieber in ihren Häusern, anstatt sich auf der Förde mit mir zu messen. Aber das macht mir nichts, ich bin ihnen nicht böse. Bald kann ich viele Tage mit hunderten Booten spielen, und ich habe schon ein paar gute Ideen für Überraschungen.“
Jetzt muß ich lachen. Was wären die zehn Tage im Juni, an denen dort das größte Seglerfest Europas stattfindet, ohne wechselhaftestes Wetter, ohne starke Böen, Regenschauer und Abende, an denen man sich frierend aneinander drängt?
„Der Leuchtturm, an dem du so oft standest in der letzten Zeit, ist grade wieder vom Land abgeschnitten, ich drücke viel Wasser in die Förde hinein. Aber auch er bestellt dir Grüße, natürlich. Die ganze Stadt vermisst dich übrigens ein wenig, es sind schon wieder viele Wochen vergangen, seitdem du das letzte Mal dort warst. Die Möwen sind jedoch frech wie immer und lachen über die Windsbraut, die sich im Binnenland vor dem Meer versteckt.“
Hinter den geschlossenen Lidern verdrehe ich die Augen. Natürlich, was war von diesen geflügelten Biestern schon anderes zu erwarten…
„Auf Deiner Insel gibt es momentan viel Bernstein, und ich soll dir von dem Leuchtturm und den Heidschnucken ausrichten, daß sie sich noch an dich erinnern. Der Bärlauch blüht bereits, und die ganze Insel riecht nach Knoblauch. Sie haben die Netze langsam wieder leer, der größte Flug ist bereits vorbei.“
Ich nicke, das hatte ich mir gedacht.
„Ansonsten nur das übliche. Blaue Nächte, in denen die Sehnsucht nach dem offenen Meer für jeden am Ufer beinah überwältigend wird, so er ein offenes Herz besitzt. Schätze am Meeresgrund, die niemand je finden wird, Meerjungfrauengesänge, die Schiffer in die Irre locken, fremde Häfen, in denen das Glück auf Matrosen wartet, du kennst das ja.“
Ja, das kenne ich. Den Lockruf der Weite hinter dem Horizont, da, wo wochenlang nur Wind und Wellen und Gischt herrschen, das Fernweh, das auf jedem Wellenkamm sitzt und von anderen Ländern und Menschen und Abenteuern erzählt. Hier, auf dem Festland, hat es sich abgeschwächt, doch dafür trägt jeder Windstoß den Ruf der See in sich, die mich vermisst, die ich vermisse, so schmerzhaft, so stark.
Mit einem Sausen, das beinah ein Seufzer ist, streicht mir der Wind über den Kopf. „Ich weiß“, flüstere ich. „Bald. Bald.“

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