13. Januar 2013

Cinephilie: ‚Die Wand‘

Sie war's: Taren | am: 13.01.2013 | 14:10 | Stempel: Cinephilie | Keine Gedanken »

diewand

Eine Frau, allein vor Bergen. Oftmals sieht man Martina Gedeck in diesem Film nur im Profil, als Schattenbild vor lichtgefluteten Panoramen. Es gibt nicht viel Handlung, aber viel Bild: Gipfel, Bergketten, Täler und Wald, viel Natur und Himmel. Die Alpenwelt, in welche sich dieser einzelne Mensch hinein fügen muß, ist immer präsent, selbst bei den Innenaufnahmen, bei denen die Weite und Größe der Wiesen und Almen gegen das Dunkel hölzerner Berghütten steht.

Julian Pölsler beeilt sich nicht, die Geschichte dieser namenlosen Frau zu erzählen. Wir betrachten sie, wie sie sich selbst betrachtet, zurückschauend durch das Aufschreiben dieser ersten, fassungslosen Monate, in denen sie mit der Einsamkeit und Verlassenheit in ihrer Jagdhütte noch kämpft. Wir sehen zu, wie sie beginnt, sich damit abzufinden, daß niemand kommen wird, um sie zu holen. Wir lauschen ihrer Stimme, die außer einigen fremden Worten ganz am Anfang die einzige Stimme ist, die wir überhaupt hören. Der Zuschauer wird erfolgreich mit Martina Gedeck allein gelassen, so, wie diese auch selbst allein ist, und wie sie zuckt er in den ersten Tagen und Monaten noch zusammen, wenn in der nächtlichen Dunkelheit Geräusche ertönen, wenn der Hund bellt, um über die Jahreszeitenwechsel gleich ihr ruhiger zu werden.

Eine Frau fährt mit einem befreundeten (befreundet? Bekannt? Man erfährt es nicht genauer…) Ehepaar zu deren Jagdhütte im österreichischen Gebirge. Nach einem Ausflug ins Dorf am ersten Abend kommen die beiden älteren Herrschaften jedoch nicht zurück, und auf der Suche nach ihnen, am nächsten Morgen, läuft die Frau mitten in ein Hindernis hinein, was ihren Weg ins Dorf und generell in die Welt hinein blockiert: eine unsichtbare Wand, kühl und glatt, wie aus Glas, erstreckt sich über den Weg. Weitere Erkundungen in der nächsten Zeit offenbaren, daß die Wand sie umschließt und jeglichen Kontakt zu Menschen verhindert. Woher sie kommt, was hinter ihr ist und in wie fern die Welt jenseits dieses kleinen Bergrefugiums überhaupt noch existiert, bleibt offen.
Was darauf folgt, ist eine psychologisch sehr spannende Betrachtung der Einsamkeit. Luchs, der Hund des Ehepaars, ist zunächst einziger Begleiter und Freund der Frau, später kommen eine Katze und eine Kuh hinzu. Durch mehrere Phasen begleiten wir den Prozeß des Kampfes gegen die Wand, später die Akzeptanz und Einrichtung in einem Leben, welches von den Tieren und der Natur um sie herum bestimmt wird. Die Frau beginnt zu schreiben, um nicht verrückt zu werden, wie sie sagt, und berichtet sowohl von den kleinen Alltäglichkeiten der Arbeit wie von den großen, philosophischen Gedanken zur Menschheit und zur Welt. Die schlichten Bach-Partiten als Filmmusik untermalen gewissermaßen grade durch ihren starken Kunstcharakter die Stille und Weite und Leere dieser Welt. Schade ist nur, daß oftmals die Musik bereits vorwegnimmt, was als nächstes geschehen wird.

Martina Gedeck spielt in dieser einzigartigen Darbietung in höchstem Maße überzeugend und intensiv. In keinem Moment wird es langweilig, ihr Gesicht zu sehen, weder nachts, wenn man kaum die geöffneten Augen vor der Schwärze erkennen kann, noch tagsüber. Sie schafft es erfolgreich, in diesem Gesicht die Entwicklung darzustellen, die die Frau über die Monate durchläuft – die Müdigkeit, die Verzweiflung, die Härte, welche das autarke Leben von ihr verlangt. Selten lächelt sie, doch wenn sie es tut, lächelt der Zuschauer unbewußt mit ihr.

Am Ende bleiben viele Fragen offen. Ich bin nicht die einzige, die während des Abspanns sitzen bleibt und noch einige Minuten braucht, um das Kino zu verlassen. In der Schlichtheit seines Auftretens zieht einen dieser Film tief in seinen Bann und bleibt über sich selbst hinaus präsent. Die Größe und Schönheit der Gebirgswelt weckt Sehnsucht, auch die zuletzt erreichte Verbundenheit mit der Natur, doch ist es auch ein Unbehagen, was mich noch auf der Heimfahrt begleitet. Wie gut ich selbst wohl in der Lage wäre, auf mich allein gestellt zu überleben? Könnte ich ohne andere Menschen sein, würde ich es überhaupt wollen?
Es sind große Fragen, die der Film aufwirft, und er gibt keine oder zumindest keine befriedigenden Antworten darauf. Doch das ist nicht schlimm – als ein spannendes, interessantes und auch ein wenig verstörendes Gedankenspiel fügt er sich durch seine Stille und Schlichtheit als angenehme Ausnahme in die Reihe der Dystopien, die 2012 im Kino liefen. Ein definitiv sehenswerter Arthousefilm mit einer wirklich überragenden Schauspielerin.

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